Vorsicht, beisst!

Anuk kam als erstes meiner Meerschweinchen in den Genuss von Shiatsu, als die Anzeichen einer erneuten Blasenentzündung deutlich wurden. Als „Versuchsobjekt“ war sie nicht unbedingt erste Wahl, denn sie scherte sich nie darum, dass Meerschweinchen gemäss Fachliteratur eine Beisshemmung haben sollen. Beim Tierarzt hätte man sie leicht mit einem Wildschwein verwechseln können – seit ihrer ersten Begegnung mit ihm stand in dicken, roten Buchstaben „Beisst!“ zuoberst auf ihren Unterlagen.

 Da sie schon drei Blasenentzündungen gehabt hatte, wollte ich es beim vierten Mal mit Shiatsu versuchen. Um es vorweg zu nehmen: Die Blasenentzündung ist wunderbar ausgeheilt, der Tierarzt war sehr zufrieden. Er bescheinigte ihr einen sehr guten Allgemeinzustand, für ein Meerschweinchen ihres Alters (5 ½ Jahre) geradezu phänomenal. Leider ist Anuk in der Zwischenzeit gestorben.

 

Freigeist und Co-Präsidentin

Anuk, der kleine Freigeist mit den flinken Zähnen, war temperamentvoll und hatte Chef-Ambitionen. Mit Jimmy, dem kastrierten Böckli, einigte sie sich nach heftigen Auseinandersetzungen auf eine Art Co-Präsidium. Sie hatte ein herrschaftliches Gehabe, das ihr bei mir den Titel „Kleine Madame“ eintrug.

Bei mir biss sie nie wirklich zu, es war eher ein freundschaftliches Zwicken, eine Mahnung, dass ich mich ihr gegenüber gerade etwas ungebührlich verhielt.

Ungeweinte Tränen

Anuk liebte Jimmy, und die erste Blasenentzündung manifestierte sich, als er starb. Für die westliche Medizin ist die Ursache einer Blasenentzündung entweder eine bakterielle Infektion oder eine Reizung durch Harnsteine. Entsprechend werden Antibiotika und schmerzlindernde Medikamente verschrieben.

 Man kann es aber auch anders sehen: Allgemein wird die Blase mit gelebten, ausgedienten Gefühlen und Erfahrungen in Verbindung gebracht. Es heisst, dass ungeweinte Tränen, die man sich nicht zugestehen kann, unten überfliessen, wo niemand sie sehen kann. Die traditionelle chinesische Medizin (TCM) siedelt Trauer in Form von Melancholie im Element Wasser an, insbesondere in der Niere. Auch der Lungenmeridian ist in Betracht zu ziehen, wenn es um Trauer geht, z.B. Trauer um einen Verstorbenen. Der Dickdarmmeridian kommt in Frage, um das Thema Loslassen, auch bei einem Todesfall, zu behandeln.

 

Das Einschleichen in die Behandlung

Wie die meisten Meerschweinchen war auch Anuk nie begeistert davon, aus dem Gehege genommen zu werden. Hilfreich war das langsame Ausstreichen der Ohren, das auf sie beruhigend wirkte. Ich benetzte dazu Zeigefinger und Daumen mit Notfall-Bachblütentropfen und gab auch noch einen Tropfen auf die kahle Stelle hinter den Ohren. Nachdem ich mich so in die Behandlung hineingeschlichen hatte, strich ich ihr den ganzen Körper langsam ab.

Ernährung und Haltungsbedingungen waren, soweit ersichtlich, nicht für die immer wiederkehrenden Blasenentzündungen verantwortlich, die beiden anderen Meerschweinchen der Gruppe zeigten keine solchen Probleme. Ihre Behandlung ging deshalb davon aus, dass die Blasenentzündungen Ausdruck der unverarbeiteten Trauer waren. Ich entschied mich für das Wasserelement wegen der Blasenentzündungen und das Metallelement aufgrund ihrer offensichtlichen Trauer. Meine Interpretation basierte hauptsächlich auf Kommunikationen mit Anuk und dem Umstand, dass ich sie sehr gut kannte.

Anuk hatte deutlich an Gewicht verloren. Ihr Hinterteil war nass, die Haare z. T. verklebt und sie roch unangenehm. Ich legte eine Behandlung des Lungenmeridians und des Blasenmeridians fest. Da Anuk auffallend kalte Pfoten hatte, zog ich auch noch den Dreifach-Erwärmer-Meridian hinzu, um eine bessere Wärmeverteilung zu erreichen.

Auch Meerschweinchen geniessen Entspannung

Die erste Behandlung verlief optimal. Ich wärmte den Unteren Erwärmer mit beiden Händen, verzichtete auf die Behandlung des ganzen 3E-Meridians. Beim Lungen-Meridian fürchtete ich um meine Finger – ich war überzeugt, ich würde nicht ohne ein, zwei Bisse wegkommen. Aber Anuk bleibt ruhig. Sie hatte schon während der Behandlung des Blasenmeridians einen träumerischen Ausdruck angenommen und schien ganz mit sich selbst beschäftigt zu sein. Nach Yin-Yang-Ausgleich und Zentrieren blieb sie noch ein Weilchen ruhig sitzen, bis sie sich plötzlich wieder rührte und mir zu verstehen gab, dass sie zurück ins Gehege wollte.

Nach drei Behandlungen ging es Anuk deutlich besser, sie war trocken und ihre Pfoten waren warm. Sie verfolgte meine Behandlungen aufmerksam und verfiel regelmässig gegen Schluss in ihre Reverie. Zurück im Gehege waren ihre Ohren jeweils gerötet, was auf eine gute Durchblutung schliessen liess. Sie gönnte sich nach der Behandlung immer gleich einen Schluck Brennnesseltee und wählte dann mit Bedacht die schmackhaftesten Heuhalme.

 

Schluss mit dem Shiatsu-Zeugs – die Kleine Madame ist zurück!

Anuk ging es nach weiteren zwei Behandlungen wieder blendend. Die Behandlungen waren nun sehr kurz, da sie ungeduldig war und wieder in ihr Gehege wollte. Meine Kleine Madame war zurück! Sie zeigte keine Bereitschaft mehr, weitere Behandlungen über sich ergehen zu lassen: „Schluss mit diesem Shiatsu-Zeugs!“

 Obschon sie das nie zugegeben hätte: Shiatsu hat Anuk bei der Genesung unterstützt und sie wieder ins Gleichgewicht gebracht. Es war berührend zu sehen, wie dieses Meerschweinchen, das sich beim Tierarzt immer aufführte wie ein ausgewachsenes Wildschwein, die Behandlungen genoss und mitarbeitete. Shiatsu ist eine Wohltat, sowohl für Meerschweinchen als auch für bissige Möchtegern-Wildschweinchen.